Fabien Pinckaers, der Gründer von Odoo, ist ein Paradebeispiel für Unternehmertum. In einem Interview mit Herry Stebbings von VC20 erzählte er von seinem beeindruckenden Werdegang, den Herausforderungen beim Aufbau von Odoo und den strategischen Entscheidungen, die das Unternehmen zum globalen ERP-Marktplayer gemacht haben.
Die Anfänge – Unternehmertum mit 13 Jahren
Schon mit 13 Jahren begann Pinckaers, Business-Software für Unternehmen zu entwickeln. Sein Interesse galt nicht nur der Programmierung, sondern auch dem Management. Was als Hobby begann, wurde schnell zu einem ernsthaften Geschäft, da immer mehr Unternehmen seine Software nutzten.
Während seiner Schulzeit und Studienjahre entwickelte er unterschiedliche Projekte – von E-Commerce-Websites über Virenschutzsoftware bis hin zu einem Online-Marktplatz für Kunstwerke, der es sogar mit eBay aufnahm. Doch erst mit Odoo fand er seine wahre Berufung.
Die Geburt von Odoo – Alles auf eine Karte setzen
2005 entschied sich Pinckaers, sich voll und ganz auf die Entwicklung von Management-Software zu konzentrieren. Statt mit einem kleinen MVP zu starten, baute er von Anfang an eine umfassende ERP-Lösung mit Modulen für Buchhaltung, Logistik, Einkauf und mehr. Dieser „Fat-Startup“-Ansatz war riskant, erwies sich jedoch als essenziell für Odoos langfristigen Erfolg.
Bootstrapping bis zum Limit – Erste Finanzierungsrunde 2010
Odoo wurde über Jahre hinweg eigenfinanziert. Pinckaers setzte auf Kundenprojekte, um das Unternehmen zu finanzieren, anstatt früh Kapital aufzunehmen. Doch als das Wachstum an eine kritische Grenze stieß, entschied er sich 2010 für eine erste Finanzierungsrunde. Mit 3 Millionen Euro von Sofinnova Partners stellte er Odoo auf ein solides Fundament, um den Übergang vom Dienstleistungsmodell zu einem echten Softwareunternehmen zu vollziehen.
Vom Open-Source-Dilemma zur Open-Core-Strategie
Ein frühes Problem war das Open-Source-Geschäftsmodell: Kunden nutzten Odoo, aber viele zahlten nach dem ersten Jahr nicht mehr für Support und Wartung. Dies führte beinahe zur Insolvenz. Die Lösung? Der Wechsel zu einem Open-Core-Modell, bei dem 80 % der Funktionen weiterhin kostenlos sind, aber 20 % als Premium-Features monetarisiert wurden. Dieser Schritt brachte den finanziellen Durchbruch.
Exponentielles Wachstum durch strategische Preisgestaltung
Odoo hat sein Preismodell mehrfach angepasst. Eine fehlerhafte Preisstrategie kostete das Unternehmen fast ein Jahr Wachstum, weil Partner sich gegen eine zu aggressive Preisstruktur wehrten. Die Kehrtwende kam 2022 mit einer Preisanpassung: Niedrigere Preise für kleine Unternehmen, höhere Preise für Großkunden. Dies führte zu einer Verdreifachung der Neukunden.
Marketing? Nicht notwendig, wenn das Produkt überzeugt
Odoo wuchs primär durch Mundpropaganda. Kunden empfahlen das Produkt weiter, weil es funktionierte. Laut Pinckaers gewinnt letztlich immer das beste Produkt – besonders in einem langsam wachsenden Markt wie ERP, in dem Wettbewerber wie SAP oder Microsoft Dynamics sich kaum verändert haben.
Planung eines Unternehmens ohne Budget
Ein unkonventioneller Ansatz bei Odoo ist der Verzicht auf ein starres Budget für die einzelnen Teams. Laut Pinckaers gibt es zwar ein Gesamtbudget, das von der Finanzabteilung verwaltet wird, aber die Teams selbst müssen sich nicht darum kümmern.
Stattdessen liegt der Fokus darauf, dass jede Abteilung effizienter wird. KPI-getriebene Zielsetzungen für Entwickler hält er für unnötig, da Teamleiter durch tägliche Zusammenarbeit ohnehin wissen, wer gute Arbeit leistet. Der Verzicht auf ein fixes Budget führt dazu, dass Teams bewusst über Ausgaben nachdenken und Verantwortung übernehmen, anstatt einfach nur genehmigte Mittel auszugeben.
Ein Beispiel aus Odoos US-Geschäft zeigt, dass KPI-Systeme oft irreführend sein können. Ein herausragender belgischer Berater, der in die USA geschickt wurde, um komplexe Projekte zu lösen, erhielt die schlechtesten KPI-Werte – einfach weil er die schwierigsten Aufgaben übernahm. Dies verdeutlicht für Pinckaers, dass klassische Metriken nicht immer aussagekräftig sind.
Zusätzlich setzt Odoo auf eine ungewöhnliche Recruiting-Strategie: Statt nach hochrangigen Managern zu suchen, bevorzugt das Unternehmen junge Talente, die intern ausgebildet werden. Dies macht die Skalierung einfacher und effizienter.
Unternehmenskultur als Schlüssel zum Erfolg
Laut Pinckaers basiert die Kultur von Odoo auf drei Säulen: Autonomie, Verantwortung und persönliche Weiterentwicklung.
- Autonomie: Jeder Mitarbeiter kann Entscheidungen treffen, ohne ständig Genehmigungen einzuholen.
- Verantwortung: Mitarbeiter werden ermutigt, eigenverantwortlich zu handeln – ein Verhalten, das aktiv gefördert und trainiert wird.
- Evolution: Mitarbeiter wählen ihre eigenen Jobtitel, um den Fokus auf ihre tatsächliche Arbeit statt auf Hierarchien zu legen.
Odoo verzichtet bewusst auf bürokratische Prozesse für kleine Ausgaben: Statt aufwendige Genehmigungsprozesse für Einkäufe durchzuführen, können Mitarbeiter einfach selbst entscheiden. Das spart Zeit und Geld.
Fabians Relocation nach Indien – Skalierung auf die nächste Stufe
Eine der größten Herausforderungen für Odoo war das Wachstum in Indien. Obwohl das Unternehmen dort bereits über 200 Mitarbeiter hatte, stagnierte die Expansion über sieben Jahre hinweg. Um das Problem zu lösen, entschied sich Pinckaers, persönlich nach Indien zu ziehen – gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern.
In nur kurzer Zeit gelang es ihm, mit den bestehenden Führungskräften die Organisation von 200 auf 800 Mitarbeiter zu skalieren. Die Strategie war einfach: Die Teams waren gut, benötigten aber gezielte Unterstützung bei Prozessen, Skalierung und strategischer Führung. Innerhalb weniger Monate wurde die Anzahl der Neukunden von 16 auf über 800 pro Monat gesteigert.
Lektionen zum Aufbau eines Vertriebsteams
Eine der größten Herausforderungen im Unternehmenswachstum ist der Aufbau eines effektiven Vertriebsteams. Pinckaers setzt dabei auf einen pragmatischen Ansatz: Anstatt externe Führungskräfte zu rekrutieren, werden Sales-Leads intern befördert. Entscheidend ist, dass Führungspersonen ihr Wissen weitergeben und neue Mitarbeiter intensiv schulen.
Odoo fokussiert sich stark auf Produkt-Demos: Neue Vertriebsmitarbeiter führen in den ersten Wochen täglich zwei Demos durch, um sich schnell einzuarbeiten. Da der durchschnittliche Vertragswert (ACV) bei nur 3.500 Euro jährlich liegt, setzt Odoo fast ausschließlich auf Inbound-Marketing. Outbound-Strategien werden erst jetzt testweise eingeführt, insbesondere für branchenspezifische Lösungen.
Viele Unternehmen scheitern an zunehmender Komplexität. Pinckaers hält Odoo bewusst schlank: Nur ein Produkt, eine einheitliche Organisationsstruktur und wenige Kernabteilungen. Diese Fokussierung schützt vor interner Bürokratie und macht das Unternehmen skalierbar.
Salesforce und die Zukunft von AI in ERP
Im Interview wurde auch über die Zukunft von Salesforce gesprochen. Laut Pinckaers stehen traditionelle ERP-Riesen wie SAP und Salesforce vor großen Herausforderungen, da agile Konkurrenten wie Odoo schneller wachsen.
Ein weiteres heiß diskutiertes Thema ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (AI) im ERP-Bereich. Während AI in bestimmten Bereichen wie Buchhaltung bereits massive Effizienzsteigerungen bringt, hält Pinckaers einige AI-Anwendungen für überbewertet. Er nennt das Beispiel von Salesforce’s „Agent Force“, das während der Dreamforce-Konferenz präsentiert wurde. Ein Sprachassistent, der Bestellungen verwaltet, klingt innovativ, ist jedoch oft ineffizient im Vergleich zu einer gut durchdachten Benutzeroberfläche. Laut Pinckaers führt ein optimiertes UX-Design in vielen Fällen zu besseren Ergebnissen als komplexe AI-Lösungen.
Trotzdem sieht er großes Potenzial in AI, insbesondere in der Automatisierung repetitiver Aufgaben. Odoo setzt bereits AI-gestützte Systeme ein, die Rechnungen mit einer Erkennungsrate von 98,5 % automatisch erfassen und verarbeiten – ein entscheidender Vorteil für Buchhalter, die nun weniger Zeit mit Dateneingaben verbringen.
Die wichtigste Regel für AI-Integration laut Pinckaers? Nicht mit der Technologie beginnen, sondern mit dem Problem. Unternehmen sollten zuerst analysieren, wo Zeit und Ressourcen verschwendet werden, und dann entscheiden, ob AI die beste Lösung ist – oder ob ein einfaches, gut designtes Feature den gleichen oder sogar besseren Effekt erzielt.
Fazit – Der Marathon zum Erfolg
Odoo wuchs Jahr für Jahr um 50 %, ohne abrupte „Big Bang“-Momente. Heute ist es eines der führenden ERP-Systeme weltweit. Die Geschichte von Fabian Pinckaers zeigt, dass Hartnäckigkeit, strategische Anpassungen und ein starkes Produkt letztlich den größten Erfolg bringen.
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Odoo: Vom Teenager-Projekt zum ERP Giganten